Chaoskontrolle: Hinter Gittern
Es ist eine spannende Zeit. Das Automobil wie wir es kennen, es wird nie mehr so sein wie es war. Nicht mehr von denen gebaut werden, die es bisher taten. Nicht mehr so angetrieben, nicht mehr so zu steuern, nichts. Die alten Zöpfe – nicht bloß abgeschnitten: blank rasiert.
Und alles, weil der große Volkswagen-Konzern einen Software-Algorithmus in einigen seiner Motorsteuergeräte hinterlegt hat, die ein paar verbrennungsbeeinflussende Parameter während eines erkannten Prüfstandlaufes gesetzeswidrig verbogen haben.
Der Aufschrei war ohne Gleichen.
Alle, wirklich alle haben geschimpft. Von Arnie über Angie, Elon Musk und die DUH, Kraftfahrzeugexperte Dudenhöffer, diverse Umweltämter, EPA und CARB sowieso, der US-Kongress und natürlich die Lobby der autonomen Erneuerbaren. Denn: wenn dem verhassten Gegner schon die Felle davonschwimmen, warum nicht gleich noch alle verfügbaren Schleusen öffnen, damit die ihn hinfort reißende Strömung richtig schön stark wird?
Natürlich, es soll hier niemand in Schutz genommen oder gar bemitleidet werden, aber man muss bei aller Dramatik doch beim Thema bleiben.
Deshalb in aller Kürze noch einmal (wer alle Details haben will, der kann sie hier und hier nachlesen) worum es eigentlich geht: um 11.000.000 Fahrzeuge in Europa, die mit der Manipulationssoftware unterwegs sind, sowie gut 500.000 Fahrzeuge in den USA. Diese Fahrzeuge sind in der Lage eine Prüfsituation zu erkennen und schalten dann in einen Kennfeldbereich besonderer Sparsamkeit und Abgasreinheit. Betroffen ist der VW-Motor EA189 in den Ausbaustufen als 1.2 TDI, 1.6 TDI und 2.0 TDI.
Dazu kommt eine Reihe von Fahrzeugen, bei denen Volkswagen im Rahmen der Typisierung bei der Ermittlung der Verbrauchswerte durch illegale Konditionierung der Fahrzeuge betrogen hat.
Doch auch die anderen Konzernmarken sind nicht frei von Schuld.
So hat Audi ein paar clevere Software-Tricks in den Tiefen der Steuergeräte ihrer 3.0 Liter V6-TDIs versteckt und damit auch Porsche und die Luxus-VWs Phaeton und Touareg ins Verderben gestürzt. Allerdings war der Fall hier zuerst nicht so klar. Der Behauptung von EPA und CARB, dass auch hier unzulässige „defeat devices“ zur Schönung der Abgaswerte eingesetzt wurden, widersprach man sowohl in Ingolstadt, als auch in Wolfsburg selbstbewusst, wie vehement.
Nur, man hatte wohl eine unterschiedliche Auffassung was denn nun unzulässige Software sei. Fakt ist, dass der Sechszylinder drei anstößige Features in seinem Motorcode enthält. Den ersten um Ablagerungen am AdBlue-Dosierventil zu verhindern, den zweiten um den SCR-Kat vor unverbrannten Kohlenwasserstoffen zu schützen und den dritten zur Temperaturregelung des Abgassystems bei kaltem Motor und niedriger Last. In der europäischen Zertifizierung ist das legal und wunderbar. Bloß: die Amerikaner verlangen im Rahmen der Typprüfung alle Details, die Einfluss auf die Abgaszusammensetzung haben.

Rupert Stadler. Mit dem Rücken zur Wand?
Das hat man bei Audi vergessen, irgendwie. So kam Rupert Stadler dieser Tage mächtig ins Rudern, schließlich hatten ihm seine Entwickler beteuert, dass alles mit rechten Dingen zugehe und dann: das. Man hätte sich denken können, dass der Amerikaner eine spezielle Konditionierung des Abgasnachbehandlungssystems in der Prüfungssituation ahndet. Natürlich ist die Formulierung von Stadler feinst: „Temperaturregelung bei kaltem Motor und niedriger Last“ ist nicht gleich Betrug, schon gar keine Prüfstanderkennung. Nur findet die Prüfung eben immer bei kaltem Motor und niedriger Last statt.
Es wäre dies alles kein Problem – ja sogar löblich – wenn die besondere Form der Konditionierung immer stattfinden würde, damit der große Ölmotor jederzeit im abgasreinen Zustand läuft. Leider macht er genau das nicht. Und fällt deshalb vollkommen zurecht bei der EPA durch.
Die Lösung für das Problem ist einfach. Man fliegt über den Teich, hat ein paar Ingenieure im Gepäck, die erklären, dass das in good old germany ja alles total legal sei, entschuldigt sich und spielt ein Update der Features auf, schon fährt der 3.0 TDI im Realbetrieb brav abgasarm. Natürlich wird das im echten Realbetrieb kaum Auswirkungen auf Leistung und Verbrauch haben, denn zwischen „Realbetrieb“ im Sinne des Zyklus‘ zur Verbrauchs- und Schadstoffermittlung und dem Realbetrieb des echten Fahrers liegen dann doch, ähm, Unterschiede.

Realverbrauch. Mir unbegreiflich, wie man noch 8 Blue-% holen soll…
Hier kommen wir jetzt direkt zur heißesten Neuigkeit in Sachen #wastegate. Denn nicht nur Audi hat den Problemmotor jetzt im Griff, auch Volkswagen lässt den EA189 jetzt nur noch Gänseblümchen ausstoßen. Wer grobe Eingriffe, gigantische Abgaskorken und gravierende Leistungseinbußen, wie Verbrauchsausschläge erwartet hat, der muss jetzt ganz stark sein. Es reicht, und das ist kein Scherz, ein Plastikgitterchen im Luftfilterkasten.
Wähnte man Wolfsburg vor wenigen Tagen noch am Abgrund, zählte die gesamte klassische Automobilindustrie auf Grund nicht in den Griff zu bekommender Schadstoffbelastung von Mutter Erde an, so ist des Problems Lösung von wenigen Zentimetern Durchmesser. Und vielleicht einem Cent-Betrag an Kosten. Wenn überhaupt.
Das Ganze nennt sich „Strömungstransformator“. Er beruhigt die vom Luftfilter in Richtung Luftmassenmesser strömende Ansaugluft und liefert dem Sensor eine stetigere Messumgebung, was zu einem präziseren Kalkulationsergebnis führt. Die exaktere Berechnung der Luftmasse ermöglicht die exaktere Zumessung von Kraftstoff, sowie die feiner Justierbarkeit der Randbedingungen wie etwa der Abgasrückführrate. Das Ergebnis: eine besser steuerbare Verbrennung und damit besser steuerbares Abgas.
Es klingt einfach. Genial einfach. Zu einfach?
Nun ja, jetzt ist es so dass das Fach Strömungsmechanik nicht unbedingt mit Singen-und-Klatschen vergleichbar ist. Da passieren Dinge, die kannst du dir weder gescheit vorstellen, noch im Versuch reproduzierbar abbilden, denn Luft ist Luft. Keine Brücke, die du belastet bis sich bricht und dann eben verstärkst, kein Flugzeugflügel, dessen Spanten du doppelt nietest, nachdem sie gerissen sind. Luftströmung ist Chaos. Sensibel was kleinste Störungen betrifft. Und so ein Verbrennungsmotor ist quasi eine permanente Störung. Ständig drehst du in unterschiedlichsten Drehzahlbereichen. Mal mit viel, mal mit weniger Gas. Mal in den Alpen, mal in Amsterdam. Mal bei 200km/h, mal im Stop&Go. Klar soweit?
Es haben sich deshalb die schlauesten Köpfe seit Jahrhunderten Gedanken gemacht, wie man dem Problem Herr werden kann. Das fing mit Osborne Reynolds 1883 an, der die bisher bekannten Beobachtungen zur Strömung zusammenfasste und eigene Experimente machte. Er formulierte einen Zusammenhang der Strömungseigenschaften bestehend aus Strömungsgeschwindigkeit, Durchmesser des durchströmten Körpers und der kinematischen Viskosität des strömenden Mediums.
Das klingt jetzt alles furchtbar theoretisch, ist es natürlich auch, aber: es ist auch schon so lange her, da hatte der werte Carl Benz noch nicht einmal das Automobil erfunden. Soll heißen: man sollte nachvollziehen können, dass sich die Strömungsmechanik in etwa so weiterentwickelt hat, wie sich das Automobil weiterentwickelt hat.
Und, jetzt ist der passende Zeitpunkt für diesen romantischen Einschub: sich auch noch immer weiterentwickelt. Denn genau wie das Automobil gilt auch für die Lehre der Strömung, dass es jeden Tag Neues zu entdecken, erforschen und entwickeln gilt. Ausgereizt und erschöpfend erforscht wird nie etwas sein. Außer wenn Geld eine Rolle spielt – was uns im Zusammenhang mit #wastegate selbstverständlich sofort und hart auf den Boden der Tatsachen holt.
Fest steht, dass wir trotz aller Navier-Stokes-Gleichungen und Theorien für Stabilitätsgleichungen von Strömungen, laminarer und turbulenter Strömung, Grenzschichtproblemen, Störungslebensdauer, nicht-linearer Dynamik vor allem eines irgendwie hinbekommen müssen: Chaoskontrolle.
Ein wunderbares Wort. Eines, das Volkswagen derzeit nicht nur im technischen Sinne, sondern vor allem im Marketing-technischen Sinn braucht. Dem Ingenieur geht es bei der Chaoskontrolle um die „Überführung irregulären Verhaltens eines nichtlinearen Systems in reguläres Verhalten“. Denn er braucht verlässliche Daten, irgendetwas solides, das seine komplette Entwicklungsarbeit bei der Programmierung einer Motorsteuerung auf eine belastbare Basis stellt.
Die Aufgabe ist eine denkbar undankbare, nicht nur besagtes Strömungschaos kontrollieren, sondern auch noch alle Betriebszustände abbilden und jedem einzelnen mit seinem ganz persönlichen Chaos die richtige Menge Kraftstoff zumessen, damit am Ende Leistung und Abgas so stimmen, dass Kunden und Eisbären zufrieden sind. Es sollte nun also klar sein, warum eine exakte Messung der einströmenden Luft höchste Priorität genießt.
Zur Veranschaulichung das Diagramm über die Abgaszusammensetzung bei einem Dieselmotor über das Lambda-Verhältnis (Kraftstoff zu Luft Verhältnis). Es fällt zuerst die große Bandbreite des Verhältnisses auf, die daran liegt, dass der Ölmotor mit beliebigem Luftüberschuss im Magerbetrieb laufen kann. Dort wo der Ottomotor schon lange vor Hitze verglüht wäre, fühlt sich der Diesel erst richtig wohl. Problematisch wird es für den Selbstzünder, wenn er Leistung bringen muss. Die kommt logischerweise auf dem Kraftstoff, demnach im fetten Bereich, also dort wo NOx-, Ruß- und CO-Emissionen in unschöner Höhe warten.
Dabei gelten selbst Lambda-Bereiche um 2 beim Diesel als fett – übersetzt bedeutet das im Vergleich zu einem normalen Katalysator-gereinigten Ottomotor, der zur Funktion des Kats bei Lambda = 1 fahren muss, dass der Diesel in seinem Leistungsbereich nicht nur im Verhältnis extrem viel NOx produziert, sondern auch noch absolut die doppelte Menge Abgas im Vergleich zum Ottomotor ausstößt.
Er hat also die schlechtere Abgaszusammensetzung
und davon auch noch mehr als reichlich.
Genau hier liegt das aktuelle Problem des Dieselmotors. Um ihn angesichts der aktuell geltenden Grenzwerte im Griff zu behalten, bedarf es penibelster Regelsysteme. Man kann sich vorstellen, was eine falsche Kraftstoffzumessung durch fehlerhafte Luftmassenmessung für fatale Auswirkungen auf die NOx-Emissionen hat. Wenn das Ganze dann noch bei kaltem Motor und „realen“ Gaspedalstellungen passiert: Herzlichen Glückwunsch, schon ist man bei EPA-Test durchgefallen.
In der Techniktheorie kann die nun vorgestellte Lösung mit dem kleinen Gitter und einer angesichts moderner Strömungssimulationen angepassten Software also durchaus hinreichend für ein Bestehen aller vorgeschriebenen Tests sein – Auch wenn es angesichts des allgemeinen Wehklagens der Industrie ob der „nur unter größtem Aufwand einhaltbaren“ Schadstoffgrenzen etwas schwerfällt zu glauben, das genau dieser größte Aufwand aus einem Cent-Artikel, den es so bereits seit einem guten Jahrzehnt bei anderen Luftmassenmessern gibt und einer etwas ausgefeilteren Simulation bestehen soll.
Auch dass das Gitter zur Strömungsberuhigung nur bei 1600er nötig ist und nicht bei den anderen beiden ist auf den ersten Blick merkwürdig. Aber wir erinnern uns: Chaos! Es kann natürlich sein, dass die Bedingungen beim 1.2 TDI und beim 2.0 TDI soviel besser sind, das allein die exaktere Simulation ausreicht.
Viel mehr liegt der Schatz des Bestehens wohl eher in den restlichen Algorithmen versteckt. Natürlich, wir haben eben lang und breit dargelegt, warum aus technischer Sicht die Erklärung von VW zur Lösung des Problems komplett plausibel ist, aber eben: es darf auch kein zweites Mal vorkommen. Man muss sich ganz sicher sein, dass die Normen nicht nur auf der Rolle, sondern auch im echten Leben und beim verschärften Realtest erreicht werden. Warum also nicht die Gunst der Stunde nutzen und einfach das Kennfeld untenrum etwas verschlanken? Mehr in den mageren Bereich, weg von der bösen, fetten NOx-Falle?
Weil der Kunde dann weniger Leistung hat? Sicher nicht, denn das was für den Prüfer ein verschärfter Realtest ist, ist für den Kunden immer noch das Fahren in einer blutleeren Wanderdüne. Er wird sein Auto so nicht benutzen und wenn, dann ist er aus der Gattung der Kleinsparer und freut sich über eine Maul voll gespartem Kraftstoff, bevor er sich über ein paar nicht aufgaloppierte Pferde beschwert.
VW hält für den unwahrscheinlichen Beschwerdefall übrigens noch eine Hintertür offen:
„Ziel der Entwicklungen der technischen Maßnahmen bleibt, die jeweils gültigen Emissionsziele zu erreichen, ohne Beeinträchtigung der Motorleistung, des Verbrauchs und der Fahrleistungen. Da jedoch zunächst alle Modellvarianten gemessen werden müssen, kann die Erreichung dieser Ziele zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht final bestätigt werden.“
Man habe noch nicht alle Varianten testen können, aber es soll, nach derzeitigem Stand, voraussichtlich keine Einbußen geben. Nach derzeitigem Stand, voraussichtlich. Aha. Speziell auch im Zusammenhang mit dem liebevoll ausgebreiteten Argument der doch ach-so-komplexen Simulation. Wie hat man diese denn dann auf noch nicht getestete Varianten angepasst? Es bleibt hier zumindest ein Fragezeichen, ob den Großteil der neu gewonnen Abgasreinheit nicht tatsächlich auf das Konto einer schlankeren Programmierung des Kennfeldes in von Kunden sowieso nur wenig genutzten Bereichen geht.
Was bleibt ist also das Erstaunen, dass die Lösung eines in der damaligen Entwicklung vermeintlich nicht mehr im Budgetrahmen unterzubringenden, weil extrem kostenintensiven, Problems tatsächlich in neuer Software und einem billigen Gitter zu finden war.
Die Wichtigkeit einer genauen Luftmassenmessung war schon lange bekannt, weil eben die Zusammensetzung des Abgases in Abhängigkeit des Kraftstoff-Luft-Verhältnisses seit Urzeiten besteht. Und das Argument, dass erst Fortschritte in der Motorenentwicklung die neuen Maßnahmen ermöglicht hätten und das Know-how zum Zeitpunkt der Entwicklung des EA189 noch nicht verfügbar gewesen wäre – ähm, ja. Wir reden hier immer noch von Volkswagen.
Was auch immer die Entwickler bei VW und Audi dazu getrieben hat, ihre Arbeitgeber werden es teuer bezahlen müssen. Die Änderungsmaßnahmen dauern bei den betroffenen Motoren zwischen einer halben und einer Arbeitsstunde. Wenn wir jetzt wohlwollend von 50 EUR als Verrechnungssatz pro VW-Mechatronikerstunde ausgehen, dann kommt man schnell auf 500.000.000 EUR, die der Konzern allein für die reine Arbeitsleistung zu zahlen hat. Da ist noch keine Kompensation für Mobilitätseinschränkungen der Kunden während der Maßnahme einberechnet, kein Ersatzteil, keine Logistik- und Schulungskosten, etc.
Und es war erst der Anfang. Für die USA und die dortigen Probleme mit dem 2.0 TDI gelten die ganzen Software- und Gittermaßnahmen nämlich nicht. Warum? Das wissen wir noch nicht. Offiziell sicher, weil die Abgasgrenzwerte dort schärfer sind. Vielleicht aber auch, weil man in Amerika bereits ein Glaubwürdigkeitsproblem hat, was ein Plastikgitter und ein paar Zeilen geänderter Code nicht so einfach aus der Welt räumen würden, sondern eher: schlimmer machen?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es wäre allerdings an der Zeit das Chaos nun einmal zu kontrollieren.